Es ist kurz vor neun Uhr. Die Straßen sind noch nass vom Regen der Nacht. Das ganze Ermstal ist in das warme Licht der aufgehenden Sonne getaucht. Ein halbes Dutzend Männer und Frauen steigt langsam die 219 Stufen im Turm der Amanduskirche hoch. Auf halber Höhe in der Turmstube unterhalb des Uhrwerkes wird eine kurze Pause zum Einblasen und Problem des Turmchorales genutzt. Dann geht es weiter.

Kurze Zeit später erklingt Bläsermusik über der ansonsten noch stillen Stadt. In drei Richtungen erschallt es in die Täler hinein. Wenige Minuten später fällt Bad Urach wieder zurück in die sonntagmorgendliche Schläfrigkeit. Die Galerie auf dem Kirchturm ist leer, die Bläser dabei, die Stufen abwärts zu steigen.

Am nächsten Sonntag ist dann eine andere Gruppe des Posaunenchores an der Reihe und wird, so das Wetter es zulässt, wieder pünktlich um neun den Turmchoral der neuen Woche erschallen lassen.

Die Tradition des Turmblasens wird in immer mehr Städten wiederentdeckt. Nicht so in Bad Urach. Hier ist das Turmblasen seit vielen Jahrhunderten stets wiederkehrendes sonntägliches Zeremoniell und muss nicht erst wiederentdeckt werden.

Entstanden ist das Turmblasen im ausgehenden Mittelalter. Die Städte brauchten Wächter auf den Türmen als Feuerwache. Aufgrund der oft engen Bebauung war dies von lebenswichtiger Bedeutung. Durch einen stündlichen Trompetenstoß hatten die Wächter den Bürgern unten mitzuteilen, dass der Wächter droben auch wirklich „getreu Wacht und Acht“ hielt.

Aus diesem Wächterdienst wuchs später ein musikalisches Brauchtum – das geistliche Turmblasen. Täglich wurden morgens, mittags und abends Choräle und Psalmen, aber auch Kanzonen und Suiten als Turmmusik gespielt. Die hohen kirchlichen Feste bestimmten dabei die Liedauswahl.

Nach den Unterlagen im Archiv der Stadt gab es in Urach ab Mitte des 16. Jahrhunderts Türmer an der Amanduskirche. Später wurden Stadtpfeiler, auch Zinkenisten genannt, von der Stadt angestellt. Sie versahen diesen Dienst bis Mitte des 19. Jahrhunderts.

Dann übernahmen Mitglieder des damals gegründeten Musikvereins das Turmblasen bis zum 31. Dezember 1952.

Seit dem 01. Januar 1953 steigen jeden Sonntag Bläser des Posaunenchores die 219 Stufen im Turm der Amanduskirche hoch. Zwischen 9.00 und 9.15 Uhr erklingt ein Choral, in der Regel das Wochenlied, von drei Seiten des Turmes: talabwärts, Richtung Marktplatz und Richtung Wilhelmsplatz.

Besondere Höhepunkte beim Turmblasen sind in jedem Jahr das Blasen am heiligen Abend um 22.00 Uhr und in der Silvesternacht zum Jahreswechsel. Während am heiligen Abend die Stadt vom Kirchturm aus in seltener Ruhe erlebt wird, haben die Bläser beim Feuerwerk in der Silvesternacht den Platz in der ersten Reihe.